Tantra, Musik und das Mystische

04/2013

Mystik ist wie Musik. Haben wir sie einmal erlebt, schaffen wir ganz selbstverständlich Raum für sie in unserem Leben. Musik finden wir überall, und genauso ist es mit dem Mystischen. Es durchdringt das Leben. Aber während wir Musik auf natürliche Weise hören können, herrscht in unserer Zivilisation zu viel Lärm, um die mystischen Ausdrucksformen des ewigen Geistes wahrzunehmen. Das ist schade, denn wenn wir uns ihrer gewahr sind, werden gewöhnliche Ereignisse außergewöhnlich, und unsere Erfahrungen im Leben werden magisch. In der Mystik gibt es ebenso viel Wunderbares und Schönes zu feiern wie in der Musik, und die Art, wie wir unsere Fähigkeit wiedererlangen, sie wahrzunehmen, ist an sich schon recht mystisch: Es gelingt uns, indem wir die Ganzheit unseres Wesens erkennen und uns dafür öffnen. Das Reich des Mystischen im Leben wird uns dann bewusst, wenn wir alles, was wir sind, feiern können.

Wir werden von der Welt normalerweise so konditioniert, als würden wir beim Heranwachsen lernen, nur wenige Räume unseres Körpers zu bewohnen. Es gibt Räume, die wir nicht betreten sollen – die Räume unserer Zartheit, unserer Verletzlichkeit oder unserer unkontrollierbaren Ekstase, Räume voller Tränen und Ängste; sogar Räume, in denen Leidenschaft, Verspieltheit und Kreativität ungenutzt vor sich hindümpeln, weil wir auf die eine oder andere Weise gelernt haben, uns nicht hinein zu wagen. Alle Wege der Selbsterfahrung sind Prozesse, mit denen wir die volle Nutzung unseres persönlichen Zuhauses zurückerlangen. Diese Wiederherstellung macht uns glücklich und schenkt uns ein Gefühl von großer innerer Freiheit, weil wir jeden Ort in uns aufsuchen und all unsere inneren Ressourcen nutzen können. Wenn das möglich ist, werden wir uns irgendwann der Mystik bewusst – der Anwesenheit des spirituellen Elements im gewöhnlichen Alltagsleben.

Es gibt viele unterschiedliche Wege, unser volles Potenzial zu verwirklichen. Das heutige sexuelle Tantra hat viel dazu beigetragen, Menschen zu sich selbst zurückzubringen. Sex ist so eine attraktive Einladung. Zen-Meditation hat das gleiche Potenzial, aber weitaus weniger Interessenten. Und wenn auch manches von dem, was sich Tantra nennt, eher von Belohnung als von Selbsterfahrung handelt – weil es normalerweise nicht über den Genuss hinaus geht –, gibt es genügend tantrische Wege, die den Menschen tatsächlich dabei helfen, in ein paar der „Betreten verboten“-Räume zu gelangen. Sinnliche und erotische Intimität ist ein herrlicher Weg, um alles, was wir in uns verloren oder abzulehnen gelernt haben, zurückzuerobern und uns damit anzufreunden. Freundschaft mit all unseren inneren Energien und Gefühlen zu schließen bereichert unser Dasein. Noch einfacher gesagt: Je mehr wir von unserem Haus bewohnen, umso mehr haben wir zu geben, und umso reicher ist unser Erleben von allem und jedem. Ob wir Liebe machen, mit Freunden reden, einen Sonnenuntergang betrachten, an einem Problem arbeiten oder ja, Musik hören! – wenn unser gesamtes Wesen beteiligt ist, geht unser Leben weit über das Normale hinaus. Wir entdecken das Erhabene und Mystische überall in unserem Leben. Eigentlich ist jedes echte Tantra mystisch. Wenn es nicht dazu einlädt und uns ermöglicht, Ja zu allem zu sagen, was wir sind – zu Körper, Herz und Seele unseres Wesens –, dann ist es kein Tantra.

Zurück zur Musik! Es passt, dass sie immer öfter zur tantrischen Erfahrung dazugehört, denn Musik hat die Kraft, uns so zu berühren, dass jene inneren Türen aufgeschlossen und geöffnet werden können. Sie kann uns zum Weinen und zum Lachen und zu beidem gleichzeitig bringen, und die großartigste Musik führt uns über das Gewöhnliche hinaus, hinein ins Mystische!