Muss die Show wirklich weitergehen?

08/2014

Dying Naked ist meine ganz persönliche Geschichte, durchsetzt mit Zitaten aus Gesprächen mit Teilnehmern meiner Workshops aus den letzten Jahren – Zitate, die im Zusammenhang zur Handlung des Buches stehen. Als brillante Zwanzigjährige, die mit mehr als genügend New Age-Heilern und Lehrern aufgewachsen war, interessierte sich Inanna damals nicht besonders für die Weisheiten aus meinen Workshops. Sie wollte nur meine Geschichte hören. Aber einer dieser Schnipsel fesselte sie dann wirklich:

Wenn wir mit der Angst groß werden, nicht gut genug zu sein, lernen wir, eine Show abzuziehen. Teenager produzieren sich voreinander mit großen Geschichten, besonders zum Thema Sex, weil sie so gut sein müssen, wie ihre Freunde es ihnen vorspielen. Die Show endet erst dann, wenn es dir immer wichtiger wird, du selbst zu sein, statt dieses sagenhafte Image der Person, die du in den Augen deiner Freunde sein willst, weiter zu pflegen. Dann kannst du dich mit deiner Wahrheit entspannen und dir Erkenntnisse zugestehen wie: „Mein Gott, ich bin ja viel verletzlicher, als mir meine Darbietung erlaubt hat.“

Bevor ich zur Geschichte zurückkehren konnte, fiel mir Inanna ins Wort: „Es gibt so viele Leute in meinem Alter, die das hören sollten.“

Als ich vor einiger Zeit darüber nachdachte, wie unendlich groß der Zugang zu Sex in den letzten fünfzig Jahren geworden ist und mit welchem Laissz-faire er sich durch alle sozialen Schichten bewegt, fiel mir ihr Kommentar wieder ein. Inanna hatte sich natürlich auf das Image-gesteuerte Darstellen und Vortäuschen bezogen, das unter amerikanischen Collegestudenten zum Standardverhalten gehört, obwohl es in Europa genauso verbreitet ist. Ich erinnere mich an eine TV-Dokumentation, das englische Teenager auf Clubtour auf Ibiza zeigte, die sich gegenseitig vor der Kamera mit sexuellen Frechheiten zu überbieten versuchten. Ihr unbewusstes Gruppenprotokoll verlangte von ihnen, alles Schöne, Sinnliche oder Herzliche wegzulassen.

Sex mag ein öffentliches Thema sein, aber dennoch ist in weiten Teilen der sogenannten normalen Gesellschaft etwas so unverändert geblieben wie damals, als Sex noch die verbotene Frucht war. Etwas, das nicht sein darf. Dass Teenager und junge Erwachsene ihr sexuelles Image aufpolieren und sexuelles Heldentum vortäuschen müssen, gibt einfach nur das wieder, was ihnen beigebracht wurde, und natürlich sind diese jungen Menschen auf dem besten Weg, ihren Kindern eines Tages dasselbe aufzutischen.

Es ist egal, ob das sexuelle Klima repressiv oder freizügig ist. Auf beiden Seiten gibt es eine Show, die weitergehen muss. Sie beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes gesellschaftliches Segment. Die Show läuft gleichzeitig in Mainstream-Kinos, an Alternativschauplätzen, in Kneipen und Clubs, im Fernsehen, auf YouTube, Facebook und zahllosen anderen sozialen Medien, auf politischen, religiösen und New Age-Bühnen, und ja, auch in der tantrischen Welt der „erleuchteten“ Sexualität. Abgesehen von ihrem normalen menschlichen Verfallsdatum gibt es für die Darsteller keine Altersbeschränkung nach oben, und tatsächlich haben unzählige Millionen ihre Show bis zum letzten Atemzug durchgehalten.

Die Show ist das, was wir für das Publikum in unserem Kopf machen. Es besteht aus all den Menschen, die uns aufdrückten, wer wir sein sollten, statt uns einfach zu ermutigen, wir selbst zu sein, als wir heranwuchsen: üblicherweise Eltern und andere Familienmitglieder sowie die Lehrer, Jungen und Mädchen aus unserer Schulzeit. Sie haben sich in jenen beeinflussbaren Jahren in unseren Köpfen eingenistet, halten dort Wache rund um die Uhr – auch in unseren Träumen –, um uns bei der Stange zu halten, drängen uns, gut dazustehen und drangsalieren uns, wenn wir in ihren Augen nicht gut genug sind oder etwas falsch machen. Sie sind sehr engagiert dabei, uns vor der Angst zu schützen, die sie an uns weitergegeben haben, und sie verurteilen uns so, wie sie selbst verurteilt wurden. Bis wir als Erwachsene einen Weg finden, uns davon zu befreien, wird die Show, die wir für die Menschen um uns herum abziehen, von diesem Phantompublikum gesteuert.

Wie schick oder schäbig die Show auch sein mag – wenn es um Sex geht, hat das, was sie am Laufen hält, nichts mit Sex an sich zu tun. Unsere Darbietung wird von der tiefsitzenden Überzeugung gelenkt: „Ich bin nicht so wunderbar / schön / begabt / erfahren / sexy / tantrisch / bewusst / frei / liebevoll etc., wie ich sein sollte.“ Das Vortäuschen, Schauspielern und Weglassen gibt es nur um des Publikums willen, das aus Höflichkeit, Einverständnis, Unbewusstheit oder sogar Freundschaft selten die Frage stellen kann, die wirklich zählt: „Wer bist du, wenn du gerade kein Theater spielst?“

Wenn diese Frage als Einladung und nicht als Verurteilung gestellt wird, ist sie die wichtigste, die uns jemals gestellt werden kann, weil sie uns die Möglichkeit eröffnet, uns auf ein lebensveränderndes Abenteuer einzulassen. Wenn wir es wagen, die Show aufzugeben, ohne sie durch eine andere zu ersetzen, finden wir uns in einem inneren Leerraum wieder, der uns, wenn wir uns ins Dunkel wagen, zu der spannendsten Erfahrung führt, die wir uns vorstellen können: der Entdeckung, wer wir wirklich sind. Es ist kein Zufall, dass ich das Wort wagen verwende. Das, was mit uns passiert, wenn wir die Show wirklich beenden, ist der Grund, warum manche Leute niemals ihr wahres Wesen entdecken. Wir werden dann zwangsläufig unserer Angst begegnen. Stellt euch beispielsweise einen Mann vor, den jeder als „strahlenden Mittelpunkt der Party“ kennt. Was wird er erleben, wenn er plötzlich aus heiterem Himmel mit seiner Rolle aufhört? Was wird er vor allem in den ersten Sekunden und Minuten fühlen, in denen er nicht für irgendein Publikum spielt, sondern sich stattdessen erlaubt, alles zu wahrzunehmen, was in ihm passiert? Wird er sich hilflos fühlen? Verlegen? Machtlos? Beschämt? Nicht gemocht? Dumm? Es gibt noch weitere mögliche innere Zustände, und keiner davon ist angenehm, denn sie alle lassen sich auf dieselbe Tatsache zurückführen – dass er glaubt, ohne seine Show nicht gut genug zu sein. Wenn er mit seiner Vorführung aufhört, wird er sofort Angst bekommen, weil er sich plötzlich nirgendwo mehr verstecken kann vor allem, was er in sich zu fürchten gelernt hat. Seine gewöhnliche Alltagswelt ist bevölkert von Menschen, die ständig ihre wahren Gefühle mit irgendwelchen Scharaden verdecken. Vielleicht versteht er es nicht, aber die Botschaft kommt trotzdem bei ihm an: Es ist nicht okay, du selbst zu sein.

Unsere Persönlichkeitstrips sind gesellschaftlich so sehr akzeptiert  – und werden sogar bewundert –, dass wir die Maschine, die sie steuert, kaum bemerken. Die Maschine ist eine tief verwurzelte Angst, die unsere gesamte Kultur durchdringt und uns alle dazu treibt, uns hinter unseren Persönlichkeitstrips zu verstecken. Wenn du die Vorstellung lächerlich findest, dann sei dir bewusst, dass die Show weitergeht, wenn du sie mit einem Lachen abtust. Wie bei des Kaisers neuen Kleidern von Hans Christian Andersen will unsere Zivilisation nicht, dass alles herauskommt! In dem Glauben, unsere Persönlichkeit sei das, was wir wirklich sind, wollen wir gar nichts anderes wissen, bis uns das Leben auf irgendeine Art dazu bringt, den Schwindel zu bemerken, der ständig um uns herum aufgeführt wird und zu dem wir natürlich mit unserer eigenen, gut eingeübten Rolle beitragen. Wenn wir dann einfach die Show beenden und das Wunder des Echtseins feiern könnten, wäre dieser Planet ein ganz anderer Ort. Statt von ihren Überzeugungen verblendet zu sein, würden die Leute sich sehen. ALLE Konflikte, die Menschen gegeneinander austragen – ob häuslich oder international –, entstehen durch Streit und Kampf von einer Maskerade gegen die andere! Und die einzigen Menschen, die uns nicht mögen, wenn wir wir selbst sind, sind diejenigen, die immer noch in der Illusion leben, sie wären die Kostüme, die sie tragen.

Die Angst, die uns in unseren fingierten Kostümen festhält, wurde uns eingeträufelt, als wir noch zu jung waren, um zu merken, was los war. Wir wurden einfach in dem Vertrauen groß, dass die Show, die wir vorzuführen lernten, zu unserem eigenen Besten war. Bis wir erwachsen waren, hatten wir längst vergessen – wenn wir es überhaupt je gewusst hatten –, dass uns unsere Show von unserem größten Schatz fernhält, dem wilden und magischen Mysterium eines Wesens, das sich von niemandem kontrollieren lässt und sein Leben schon für das bloße Wunder des Daseins feiert – und nicht, um irgendein Publikum zu beeindrucken.

Warum haben unsere Eltern den Schatz nicht in unserem Interesse gehütet? Warum haben sie uns nicht geholfen, in unser wahres Wesen hineinzuwachsen? Nicht aus eigener Schuld! Jeder in der Familie hat von Generation zu Generation gelernt, die Show weiterlaufen zu lassen. Und was ist der Unterschied, wenn du statt deiner Performance du selbst bist? Stell dir vor, du wärest blind und taub geboren und könntest plötzlich sehen und hören! Oder du merkst, dass du auf einmal ganz wach bist mit allen Sinnen und Gefühlen, völlig verbunden mit Herz und Seele, dir aller Dinge bewusst bist, die hier und jetzt geschehen, und die ewigen Mysterien intuitiv verstehst, so dass du gar nichts anderes mehr kannst, als dich zu fragen, wo um Himmels willen du dein ganzes Leben lang gewesen bist.

Unsere kontinuierliche menschliche Tragikkomödie besteht darin, dass wir erst mit der Show aufhören müssen, damit wir uns voll und ganz feiern können – aber nur dann, wenn wir uns mit unserer Angst anfreunden. Dieses aber ist es, was so viele in der Tragödie festhält. In dem Moment, in dem unser Freund, der „strahlende Mittelpunkt der Party“, den Vorhang seiner Show fallen lässt, wird der Abgrund, in den er jetzt blickt, ausreichen, um ihn sofort wieder auf die Bühne zu bringen. Es muss nicht unbedingt eine Wiederaufführung seiner alten Show sein. Wie viele andere Menschen sieht er sich vielleicht nach einem reizvolleren Kostüm um, obwohl jede Show in Ordnung wäre, solange sie ihn nur von seiner Angst abschirmt. Andererseits – wenn er bereit ist, ihr zu begegnen, braucht er gute Verbündete, die ihm dabei helfen, in den Abgrund zu steigen und zu lernen, wie er mit allem, was er dort findet, Freundschaft schließt. Wenn er es wagt, seine Hilflosigkeit und Einsamkeit, seinen Kummer und sein Leid, sein gebrochenes Herz und seine seelenverlorene Verzweiflung mit offenen Armen anzunehmen, beginnt für ihn in Wirklichkeit eine Liebesbeziehung mit allem, was ihn von sich selbst ferngehalten hat. Er kehrt nach Hause in sein Wesen zurück. Richtig, als erstes muss er sich in die Dunkelheit wagen. Wenn er dort hindurchgeht, wartet eine Morgendämmerung auf ihn, die er sich nicht hätte träumen lassen. Er tritt ein ins SEIN.

Nichts von alldem soll die Wunder von Vorführungen und die Virtuosität großer Künstler schmälern. Der Unterschied ist, ob wir das Geschenk unseres Daseins feiern oder ob wir uns vor uns selbst verstecken. Einige der berühmtesten Menschen der Welt tun beides. So oder so, die Shows, die wir abziehen, um andere zu beeindrucken oder zu täuschen, zeigen, dass wir uns nicht mögen, uns nicht vertrauen und/oder uns selbst noch nicht entdeckt haben. Es sind die inneren Zustände, mit denen wir uns nicht befassen und anfreunden können, die uns zu unseren Unreality-Shows treiben. Trash-Sex rettet uns vor Gefühlen wie Zartheit, Verletzlichkeit und sogar Liebe, der wir zu misstrauen lernten. Wer die weise Autorität spielt, kann eine beliebige Anzahl menschlicher Schwächen unter Verschluss halten – etwa die Angst vor Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Einsamkeit oder Machtlosigkeit, mangelnden Selbstwert und daher die Notwendigkeit, ihn sich über andere zu verschaffen. Aber hinter diesen beiden und allen anderen Überlebensspielen steht ein gemeinsamer grundsätzlicher Faktor: Misstrauen und Angst davor, wer wir ohne sie wären.

Ja, Inanna, durch dieses Abenteuer wird die grässliche Bildungslücke geschlossen – bei Collegstudenten, Clubgängern, Büroangestellten, Ärzten, Anwälten und Berufstätigen aller Gesellschaftsschichten, bei Erklimmern von Karriereleitern, Verkaufspersonal, Sexarbeitern, viel zu vielen Therapeuten und Heilern und Tantra-Anwendern, darstellenden Künstlern, Filmstars, Sportgrößen, Politikern, Mitgliedern der Aristokratie und anderen ungelernten Aussteigern … und und und! Wenn wir in unseren Familien, Schulen und Gemeinschaften das Recht eines jeden Kindes würdigen, herauszufinden, wer es wirklich ist, dann werden alle Darbietungen zu einem Fest des Daseins.