Ich weiß nicht mehr, wann ich lernte, dass wir alle aus männlichen und weiblichen Anteilen bestehen. Falls es in meiner Schulzeit passierte, gab es bestimmt weder einen Anlass noch eine Ermutigung dazu, genauer hinzusehen. Ich erinnere mich, dass ich als junger Mann dem Weiblichen in meiner Natur kaum jemals Raum gab. Ein Mann zu sein hieß, männlich zu sein. Eine Frau zu sein hieß, weiblich zu sein. Das war’s. Wenn mich zum Beispiel etwas ärgerte oder aufregte, wusste ich als Mann nichts anderes als zu argumentieren, anzugreifen, mich zu wehren, meinen Standpunkt zu untermauern und alles dafür zu tun, um zu gewinnen. Sagte man mir, wie männlich ich sei, nahm ich das als Kompliment. Als weiblich angesehen zu werden wäre eine Beleidigung gewesen. Das ist für viele Männer heute noch so, besonders im unternehmerischen und politischen Bereich. Frauen, die als männlich gelten, sind heutzutage in der Gesellschaft eher akzeptiert, weil es zumindest bedeutet, dass sie Macht haben. Aber hier haben wir ein Thema, das schon seit langer, langer Zeit gemieden wird, obwohl es so offensichtlich ist. Wie würde unsere Welt aussehen, wenn unsere Erziehung von frühester Kindheit an alles einbezöge, was männlich und weiblich in uns ist – und das nicht nur als Wissensvermittlung? Was wären wir für Männer und Frauen, wenn wir als Jugendliche gelernt hätten, uns nicht nur unserer männlichen und weiblichen Anteile bewusst zu sein, sondern auch so freundlich und vertraut mit beidem umzugehen, so dass wir intuitiv mal die Führung und mal die Gefolgschaft übernehmen könnten – oder im Gleichtakt tanzen, je nachdem, was unserem Wohlergehen, unserem Glück und vor allem unserer Achtung für die Menschheit und den Planeten am besten dient? Aber so ist es nicht, weil uns niemand diesen Weg gezeigt hat, und die Konsequenzen unserer Ignoranz sind ziemlich katastrophal.
Erst als ich acht Jahre lang als Schüler von Osho Rajneesh in seinem wilden, unorthodoxen Ashram lebte, zunächst in Indien und dann in den USA, entdeckte ich aus eigener Erfahrung, was männlich und was weiblich in mir war. Es ging mit der Erkenntnis einher, dass ich Hingabe und Empfänglichkeit zutiefst misstraute. Vielleicht geschah es nur beim Liebemachen, dass ich mir irgendeine Art von Hingabe erlaubte. Bis zu meinen Mittdreißigern fühlte sich Verlieren immer wie eine Niederlage an. Erst durch meine Jahre mit Osho entdeckte ich Hingabe als Zugang zu den tiefsten Mysterien des Lebens. Nach und nach wurde mir klar, dass die Niederlage ebenso wie der Sieg zur Männlichkeit gehört. Hingabe und Empfänglichkeit gehören zum Weiblichen. Weibliche Kraft klingt für mich wie ein Widerspruch in sich. Eine starke Frau spielt mit ihrer männlichen Energie, so wie ein hingebungsvoller Mann sich seiner weiblichen Essenz anvertraut.
Ein angemesseneres Pendant zur männlichen Kraft ist das Vertrauen, das zum Weiblichen gehört. In der Empfänglichkeit liegt ein innewohnendes Vertrauen, ebenso wie in der Hingabe – ganz im Gegensatz zu Resignation oder Kapitulation, bei denen es keinerlei Vertrauen gibt. Vergesst nicht, ich beschreibe hier keine Männer und Frauen, sondern männliche und weibliche Essenz, wie sie sich in uns allen manifestiert. Frauen, die ihre Kraft zum Ausdruck bringen, können so wundervoll sein – seht euch beispielsweise nur ein paar aktuelle Sängerinnen, Schauspielerinnen oder Tänzerinnen an, wie sie alles geben, so wie seinerzeit Mick Jagger in Bestform. Und wenn sie weiblich-mysteriös rüberkommen wollen, dann ist es nicht ihre Kraft, die das transportiert. Es sind all die Nachahmungen von Hingabe und Empfänglichkeit – ja, wild vermischt mit ihrer Kraft, aber denkt euch das andere weg, und es bliebe nur die eindimensionale männliche Kraft, die von so vielen weiblichen Politikern verkörpert wird, und natürlich nicht nur von weiblichen. Donald Trump ist das beste Beispiel für zügellose männliche Kraft. Am Auffälligsten ist, dass es kein Mysterium in seinem Wesen gibt. Warum? Er hat kein Seelenbewusstsein. Wie jeder, der nur seine Männlichkeit lebt, ist er völlig entfremdet von seiner Seele. Unser Seelenleben ist uns nur dann zugänglich, wenn wir uns allem hingeben, das hier und jetzt ist. Das bedeutet, wir haben eine vertraute und freundliche Verbindung zu unseren Gefühlen, auch den verletzlichen, zarten, ratlosen und ängstlichen. Wenn wir Dinge, die wir erleben, meiden und verleugnen müssen, können wir nicht das sein lassen, was ist – und können nicht hier und jetzt sein. Keine Präsenz, keine Seele. Hier und jetzt zu sein heißt, offen für alles und jeden zu sein: ohne Widerstand, ohne Bedingungen, ohne Egotrips, ohne Agenda. Das funktioniert zwar bei Politikern ohnehin nicht, hält sie jedoch nicht davon ab, weibliche Empfänglichkeit und Empathie, die zu echter Präsenz gehören, vorzutäuschen: „Wähle mich, denn ich kann dich hören, und du bist mir wichtig.“ Einzig mit ihrer Männlichkeit verbunden, können Männer und Frauen ungestraft agieren; sie benutzen weibliche Eigenschaften zu ihrer eigenen Belohnung so eiskalt wie ein Zuhälter eine Prostituierte. Zu den traurigen und aufschlussreichen Tatsachen unserer Welt gehört, dass so viele Menschen auf diese selbstherrliche Maskerade hereinfallen. George Gurdjieff, einer der größten Mystiker des letzten Jahrhunderts, fasste es so zusammen: „Das Leben ist nur wirklich, wenn ‚ich bin’.“ Nur wenn wir uns unserer selbst bewusst sind, können wir nicht mehr getäuscht werden. Höchste Zeit, genauer hinzusehen!
Zum allerersten Mal völlig präsent zu sein ist nur in einem Zustand von empfänglicher Hingabe möglich. Es passiert selten mit Leichtigkeit. Die Leute müssen erst einmal ihrer Persönlichkeitsspielchen und Egotrips überdrüssig werden, und das scheint nur zu gehen, wenn sie vom Leben drastisch umgekrempelt werden: Der sprichwörtliche Weckruf stellt schließlich klar, dass es an der Zeit ist, aufzugeben und dem Vortäuschen ein Ende zu machen. Es ist der entscheidende Moment im Leben eines Menschen, der zur Selbsterkenntnis oder zum Selbstmord führen kann. Kein Wunder, dass die Leute lieber auf Nummer Sicher gehen und mit ihren Persönlichkeitsshows weitermachen!
Wenn wir das Vertrauen und den Mut finden, uns dem Dasein hinzugeben, bleibt unser Bewusstsein nicht mehr auf die Dinge dieser Welt beschränkt. Indem wir in der zeitlosen Gegenwart ankommen, sind wir nicht nur eins mit allem, was hier und jetzt geschieht. Wir öffnen uns für das Ewige, wir werden uns unserer Seele bewusst.
Es sind nicht nur die Egomanen, die nicht präsent sein können. Alle möglichen normalen Leute können das ebenso wenig, vielleicht, weil die Seele ihnen Angst macht, so eng, wie sie mit Tod und Ewigkeit verbunden ist. Das ist schade, denn bei einem Leben mit Seele verliert der Tod seinen Stachel, und das Leben wird unendlich viel mysteriöser. Um das zu entdecken, brauchen wir unsere Weiblichkeit. Das Männliche allein kann es nicht, es ist das aktive Prinzip – immer im Tun. Sie erscheint, wenn er aufgibt. Wird das nicht auf allerschönste Weise durch all die Geschichten symbolisiert, die von der Suche nach Erleuchtung handeln? Der Sucher probiert alles aus, liest alle Texte, besucht alle Gurus, praktiziert Tausende von Meditationen. Wenn er schließlich die demütigende Tatsache akzeptiert, dass nichts davon funktioniert, setzt er sich unter einem Baum und gibt sich hin. Voilà! Und es passiert.
Lassen wir die Erleuchtung mal beiseite. Ein Leben in Verbindung mit der Seele ist gut genug. Und es ist kein himmlisches Feenland. Die Seele ist der Ort, an dem wir uns auf das Innerste unseres Wesens einlassen, wo wir uns selbst in unverfälschter Wahrheit begegnen. Das allein erfordert schon Hingabe und Empfänglichkeit. Dies ist unsere Brücke zum Ewigen, zum grenzenlosen Mysterium, das die materielle Welt und das sterbliche Leben transzendiert. Es wird oft als die spirituelle Ebene bezeichnet; ich ziehe das Wort Mysterium vor, weil spirituell ein mit Glauben belasteter Begriff ist, und weil die Ewigkeit tatsächlich ein unergründliches Mysterium ist.
Das gewaltigste Hindernis auf dem Weg zum Einssein mit der Ewigkeit ist der Verstand. Denken ist eine Form des Handelns, wie jeder weiß, der sich bei Meditieren je gewünscht hat, sein Verstand würde endlich mal die Klappe halten. Intuitiv wissen wir, dass unser Verstand der Irrgarten ist, dem wir nicht entkommen können, aber das Wissen hilft nicht, es verursacht nur noch mehr Herumrennen dort. Ob unser Verstand aktiv ist oder unser Körper – die Aktivität an sich ist männliche Kraft in Bewegung. Ob sie kreativ oder destruktiv ist, ist entweder reiner Zufall oder hängt von der männlichen Verbindung mit dem Weiblichen ab. Er kann mit ihr oder ohne sie handeln. Mit ihr zu handeln ist ein Liebesakt im Leben. Hier und jetzt zu sein ist ein Dasein in Liebe. So romantisch das klingen mag, es ist so: Wenn unser Herz nicht dabei ist, sind wir nicht völlig präsent. Ohne sie ist er zwangloses Handeln, bewegt sich durchs Leben ohne Skrupel und Mitgefühl. Das macht ihn nicht schlecht an sich. Eher kapriziös, unbeherrscht – eine dynamische Kraft, die formt, macht und zerbricht, ohne auf die Konsequenzen zu achten.
Und da es hier ausschließlich um das männliche und weibliche Prinzip geht, lohnt es sich, die grundlegendsten sexuellen Merkmale zu betrachten – den erigierten Penis, der stark und kraftvoll genug ist, um einzudringen, und die Vagina, offen und feucht und bereit zu empfangen. Sowohl im wörtlichen als auch im symbolischen Sinne sprechen sie so eloquent von der männlichen und weiblichen Essenz. Er ist Energie, die nach Handlung sucht, und wo sonst kann er handeln als im Leben? Sie ist das unendlich begehrenswerte und allumfassende Leben, das ihn in seine Kraft bringt und in ihren geheimen Garten holt. Dort, im Leben, spielt er. Bleibt er beim Spielen verschlossen in seiner Männlichkeit, ist er nur Kraft, die sich selbst erfüllt, ohne das Sein wahrzunehmen. Er ist nicht nur rücksichtslos. Er hat keine Ahnung, was er verpasst. Er weiß nicht, dass sie das fehlende Element ist, das er braucht, um das Wunder und Mysterium des Daseins zu erkennen. Der einzige Weg, um sie anzunehmen, ist, seine Männlichkeit aufzugeben, alles Tun loszulassen und empfänglich, weiblich zu werden. Das bedeutet zu fühlen, es bedeutet, vom Leben berührt zu werden, es bedeutet, das Herz zu öffnen, was wiederum bedeutet, zu lieben. Und durch all das zusammen geschieht das Erkennen des Daseins. Wenn er sich jetzt auf seine Männlichkeit besinnt, ist er die Fusion von männlich und weiblich. Sein Handeln ist gemäßigt durch alles, was sie ist. Er achtet auf das, was er tut, und welche Auswirkung es auf das Leben hat.
Präsenz ist nicht weiblich. Es gibt das Männliche, es gibt das Weibliche, es gibt Präsenz. Hier und jetzt zu sein ist nicht vom Geschlecht abhängig. Aber der Weg dorthin ist es.
Noch einmal zurück zu Ausgangspunkt: Wie anders sähe unsere Welt aus, wenn schon Kindern beigebracht würde, ihre innere Männlichkeit und Weiblichkeit zu kennen und in freundlicher Verbundenheit zu ihnen zu stehen! Stellt euch vor, es könnte daraus ein neuer Feiertag für alle entstehen – eine Initiation ins Erwachsensein, die bedeutet, dass ein Mensch Männlichkeit und Weiblichkeit in seinem Wesen miteinander verwoben hat. Was immer er dann im Leben macht, geschieht mit liebevoller Achtung vor der Menschheit und dem Planeten, der uns erhält. Und es wäre natürlich die essenzielle Eigenschaft von jedem, der eine Führungsrolle übernehmen will. Eine vernünftige und gesunde Gesellschaft würde nicht im Traum jemandem ohne diese Eigenschaft erlauben, ihre Menschen zu regieren.